In der Arztpraxis

Es ist schon ein paar Wochen her, aber mein gestriger Blog-Artikel hat mich an eine weitere Situation denken lassen, die ebenfalls in einer medizinischen Umgebung stattgefunden hat und von den Einschränkungen mit meinem Arbeitsgedächtnis handelt.

 

Im Januar hatte eine Routine-Untersuchung zur Krebsvorsorge in einer Praxis, die ich zwar schon einmal aufgesucht habe, aber nicht gut kannte. Ich kam pünktlich zum bestellten Termin, wartete am Tresen bis ich an der Reihe war und machte alles, was die Dame des Praxis-Teams von mir wollte: Ich überreichte ihr meine Krankenkassenkarte, füllte brav alle Formblätter mit Fragen aus wie: Sind Sie schwanger? oder Wurden Sie schon einmal operiert, wenn ja, wann und warum? Selbstverständlich nannte ich ihr darüber hinaus die gesamte Palette meiner aktuellen Kontaktdaten.

 

Im Anschluss bat sie mich Platz zu nehmen und zu warten. Alles ganz normal. Ich hängte meine Jacke an den Haken, steckte die Handschuhe und die Mütze in den Rucksack und blickte auf mein rotes Portemonnaie, das ich noch halb geöffnet in meinen Händen hielt. Ach ja, meine Krankenkassenkarte gehörte dorthin zurück. Ich stand nochmals auf, ging zum Tresen und erfuhr von der netten Dame auf meine Frage nach der Karte, dass ich diese von der Kollegin aus dem Behandlungszimmer zurückbekomme, sobald ich aufgerufen werde. Hatte ich nicht mitbekommen, da ich mit dem Ausfüllen der Fragebögen beschäftigt und abgelenkt war. Also steckte ich das Portemonnaie ebenfalls in den Rucksack und tat das, was ich so gut kann: ich wartete. 

 

Beim Warten wanderten meine Augen umher und mein Geist versuchte etwas Interessantes in der neuen Umgebung auszumachen. Dabei fiel meine Aufmerksamkeit auf das System dieser Praxis im Umgang mit den Patientinnen. Eine Kollegin erschien alle paar Minuten und rief die jeweils nächste in eines der vielen Behandlungszimmer. Wie zuvor angekündigt, erhielten alle Patientinnen ihre Karte in diesem Moment zurück, als der jeweilige Name fiel und eine jede aufgefordert wurde, das entsprechende Behandlungszimmer zu betreten. Ein Vorgang von nur wenigen Sekunden. Doch eine Frage fing an mich neugierig zu machen: Wohin steckten die Damen ihre zurückgegebene Krankenkassenkarte? Zu beobachten war es nicht. Aber ich hatte in diesem Moment eine Ahnung, dass es in meinem Leben sehr viele von diesen Momenten gab, wo ich ohne entsprechende Aufmerksamkeit eine Handlung ausführte, an die ich schon Minuten später nicht habe erinnern können. Wie bitte? Ja! Der Autopilot übernimmt die Regie und lässt mich etwas tun, was sich nicht mehr rekonstruieren lässt. Aber der Reihe nach, denn dies sind Erfahrungswerte, die Menschen mit ADHS nur zu gut kennen!  

 

Ich nutzte meine Wartezeit also damit, mich zu fragen, was ICH machen werde, wenn ich meine Karte zurückbekomme. Es wird vermutlich ein Augenblick sein, in dem ich mich primär damit zu beschäftigen habe, dem Aufruf meines Namens zu folgen. Zu verstehen, was im Anschluss zu tun ist, welche Richtung ich einzuschlagen habe und wo sich mein Behandlungszimmer genau befindet: Frau Wulf, Sie gehen bitte ins 2. Obergeschoss, zum Raum 217. Sie können den Fahrstuhl am Ende des Flurs oder die Treppe nehmen. Achten Sie aber bitte darauf, dass ..... Des Weiteren soll ich meine Garderobe mitnehmen, weil ich nicht an diesen Ort zurückkomme. Alles andere klären die Kolleginnen im 2. Stock. Ich werde mich auf den Weg in den 2. Stock machen, dort vermutlich von einer neuen Fachkraft begrüßt, die weitere Anweisungen und Informationen für mich parat hält: Setzen Sie sich erst einmal dort hinten (wo genau?) in den Flur, ich komme gleich zurück. Sie dürfen dann in die Kabine gehen, schließen Sie die von außen zu. Ihre Sachen können Sie rechts ablegen und meine Kollegin kommt dann in etwa fünf Minuten. Denken Sie aber bitte daran ... 

 

HALT Stop, schon in der reinen Vorstellung einer solchen Situation ist es mir nicht möglich, mehr als drei Informationen gleichzeitig zu verarbeiten. Ehrlicherweise war das schon immer eine große Herausforderung für mich. Erst durch meine ADHS-Diagnose erfuhr ich, dass diese Beobachtung meines Verhaltens im Alltag auf messbare Kapazitätsengpässe im Arbeitsgedächtnis zurückzuführen sei.

 

Dann ist der Moment gekommen, alle Gedanken haben ein abruptes Ende. Ich höre meinen Namen, stehe auf, lächle freundlich, nehme die Karte und die Anweisungen entgegen und tue das, was jetzt für mich und mit mir geplant ist. Besonders interessant: Was mache ich nun wirklich mit meiner Krankenkassenkarte? Und: Werde ich mich später daran erinnern, was ich mit ihr mache? Stecke ich sie in meine Hosen- oder Rocktasche? Oder einfach schnell und griffbereit in die vordere Hälfte meines Rucksackes? Eine andere Möglichkeit ist die Innenseite der Hülle meines Handys, auch dort passen Karten dieser Größe perfekt hinein. Oder behalte ich sie doch erst noch in der Hand, um sie gleich (ha, gleich!) an den für sie vorgesehenen Ort in meinem Geldbeutel zu verfrachten?

 

Dann erhalte ich aber wider Erwarten einen Zettel mit meiner Behandlungsnummer (oder was auch immer darauf steht), halte diesen sicher in der einen Hand und nehme meine Jacke in die andere. In meinem Kopf kreist die mehrstufige Wegbeschreibung, ich entscheide mich, direkt nach oben zu gehen, wo man hoffentlich bereits auf mich wartet. Ich betrete die Kabine mit der Nummer 3, stelle dort meinen Rucksack auf einem Stuhl ab und lege meine Karte direkt daneben. So kann ich sie nicht vergessen. Sehe ich ja. Dann fange ich an, Teile meiner Kleidung abzulegen ... 

 

Ich werde gerufen und plötzlich muss ich meine Aufmerksamkeit neu ausrichten. Die Behandlung beginnt und endet. Dazwischen eine Ärztin, eine freundliche medizinische Fachkraft, diverse Worte, einige Fragen und vorsorgespezifsche Einordnungen. Dann geht es wieder zurück in die Kabine, ankleiden und Acht geben, alles mitzunehmen. Parallel dazu, mit einem Gefühl der Erleichterung, diesen Termin wahrgenommen und nicht erneut verschoben zu haben: Schaffe ich es noch kurz in den Edeka? Oder wird das zu eng? Um 14.00 Uhr beginnt schließlich der nächste Videocall, kann ich vorher noch was essen? Und wenn ja, was genau?

 

Alles sehr wichtige Überlegungen, die ich auf den Weg nach draußen zu meinem Fahrrad habe. Aber eine Frage habe ich mir dann doch nicht mehr gestellt: Wo ist meine Krankenkassenkarte? Ist sie zurück im Portemonnaie?

 

Wahrscheinlich ist es, dass es einen Zeitpunkt in der Zukunft geben wird, an dem ich versuche mich zu erinnern, wohin ich die Karte an diesem Tag im Januar bei einem Vorsorgetermin in einer Arztpraxis im Prenzlauer Berg gesteckt habe. Werde ich das Nicht-Finden überhaupt mit diesem Termin in Verbindung bringen? Wann genau wird dieser Zeitpunkt in der Zukunft sein? Hätte ich mich kurz vor oder nach meinem Video-Call erinnert, dann wäre alles gut ausgegangen. Kurz noch mal in den Flur, den Rucksack holen, ins vordere Fach greifen, die Karte herausfischen und dann zurück in den roten Geldbeutel. Easy peasy! 

 

Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es einen Arzttermin im März, April oder noch später im Jahr geben wird, ich dort am Tresen stehe, mein Portemonnaie öffne, um meine Krankenkassenkarte herauszuholen und sie dort nicht zu finden sein wird?

 

Was wird die Folge sein, wenn ich sie in diesem Moment der Zukunft nicht habe? Bleibt der Zutritt zur Behandlung für mich an diesem Tag verschlossen, muss ich einen neuen Termin machen, auf den ich erneut ein paar Wochen warten muss? Werde ich versuchen, mich herauszureden? Oder mit dem Praxis-Team zu diskutieren? Oder werde ich völlig überhastet damit beginnen, die Karte in allem, was ich dabei habe, zu suchen? Und werde ich zu mir sagen: Die ist nicht weg, nein! Die hab ich nicht verloren, nein! Irgendwo muss sie ja sein, ja!

 

Also ist es nur eine Frage der Zeit! Bleib ruhig. Kopf heben, doch noch mal fragen: Ist es vielleicht möglich, die Karte nachzureichen? Ja? Ah, aber nur bis morgen, weil Ende des Quartals. Frau Wulf, höre ich sie dann noch sagen: Nehmen Sie sich die Zeit und suchen Sie ganz in Ruhe. Ich kenn das.

 

Und in diesem zukünftigen Moment fühle ich heute schon den latenten und doch offensichtlichen Stress, weil ich wilder als ich will an allen möglichen Orten meines Ordnungssystems (das glaube ich jetzt nicht wirklich, dass ich dieses Wort gerade geschrieben habe) suche und je wilder ich suche, ich immer weniger in der Lage bin, meinen Verstand zu nutzen. Den bräuchte ich allerdings, um mich an diesen Tag im Januar zu erinnern als ich bei einem Termin im Prenzlauer Berg zur Krebsvorsorge war. Denn nur so käme ich mir selbst an diesem fiktiven Tag in der Zukunft ein bisschen besser (und schneller) auf die Schliche. 

 

Ich kürze meine Geschichte an dieser Stelle ab. Denn soviel kann ich verraten: Bereits im Januar – kurz nach meinem Termin– hat die Vorsorgepraxis bei mir angerufen, um zu sagen, dass meine Krankenkassenkarte gefunden wurde. Wo genau und warum sie mir allerdings abhanden gekommen ist – darüber habe ich mittlerweile doch schon eine viel bessere Vorstellung.  

 

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