Verstehen und ADHS?!

 

Das Erlebnis, mit dem Pflaster auf dem Mund in die Ecke gestellt zu werden, hatte Folgen. Ein unmittelbar spürbarer Effekt war die plötzliche Ruhe in der Klasse. Ich verhielt mich wie alle anderen Kinder, meldete mich brav und wartete geduldig darauf, von der Lehrerin aufgerufen zu werden, um Fragen zu beantworten. Es kam weniger oft vor, dass mir unkontrolliert Worte entwichen. Doch wie konnte das sein?

 

Ich hatte klar verinnerlicht – auf allen Ebenen, sogar körperlich –, dass es eine Schulregel gab, die ich nicht mehr übertreten sollte. Eine deutliche Grenze, die ich achten musste. Der Schmerz der Scham und der Schuld bohrte sich wie ein Giftpfeil in mein Inneres. Ich schämte mich nicht nur wegen der wiederholten Regelverstöße, sondern auch für meine Persönlichkeit. Während andere scheinbar keine Schwierigkeiten hatten, schien es mir unmöglich zu sein. Als neugieriges Kind wollte ich lernen und mein Wissen zeigen, aber das zählte wohl nur, wenn ich mich an das schulische Muster hielt, die Form bewahrte und das komplexe Regelwerk einhielt.

 

Rückblickend hatte der Vorfall auch andere Auswirkungen. Ob das Bild vom Giftpfeil oder vom Samenkorn besser passt, ist nicht entscheidend. Auf jeden Fall keimte und wuchs über viele Jahre etwas in mir heran, das ich nicht benennen konnte, aber definitiv Einfluss auf mein Selbstbild und meine Interaktionen mit anderen Menschen auch als Erwachsene hatte. Ich war stets darauf bedacht, innerlich auf die Bremse zu treten, sobald ich Anzeichen von außen bemerkte (wenn ich sie bemerkte!), dass meine laute, extrovertierte Art andere störte oder sie sich gestört fühlten. Auch wenn es leicht wäre, dieses Handeln als respektvoll zu bezeichnen, war es nicht aus Überzeugung gespeist, sondern aus Angst und Verteidigung. Ich wollte gemocht werden, Teil der Gemeinschaft sein, aber wer ich wirklich war und warum, konnte ich durch das Erlebte noch weniger beantworten.

 

Zurück zur Geschichte: Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wann meine Mutter von dem Vorfall erfuhr. Eine Einordnung der Geschehnisse erfolgte erst viele Monate später im persönlichen Gespräch meiner Mutter mit der neuen Klassenlehrerin. Es ist unwahrscheinlich, dass sich letztere offiziell und rückwirkend zu dem Vorfall geäußert hätte. So bleibt es lediglich Spekulation, ob die leitende Position der Schulleiterin verhindert hat, dass der Vorfall mit dem Pflaster disziplinarische Konsequenzen gehabt hätte. Schließlich war das, was mir widerfahren ist, bereits damals als ein überholtes pädagogisches Vorgehen anzusehen.

 

Meine neue Klassenlehrerin hatte mich in den ersten Wochen des ersten Schuljahres kennenlernen können und war dann überzeugt, dass ich sehr schnell dachte und es mir deshalb besonders schwerfiel, zu akzeptieren, dass andere Kinder länger brauchten, um ihre Gedanken zu formulieren. Auf Deutsch: Für sie war das ganze Ereignis ein deutlicher Hinweis auf meine Unterforderung. Und schon damals verstand man, dass Unterforderung für Kinder genauso schmerzhaft sein kann wie Überforderung.

 

Daher war offensichtlich, was mir fehlte: Mehr Herausforderungen, zusätzlicher Lernstoff, und eine verstärkte Förderung. Trotz meiner nach wie vor unruhigen Art gelang es mir im Unterricht, mein Interesse und meine Neugier besser zu kanalisieren, um zu lernen. In der Grundschule gehörte ich stets zu den besten Schülerinnen und Schülern. Ich verdanke dies sicherlich auch der großartigen Unterstützung meiner Lehrerin.

 

Insofern waren die neue Lehrerin als auch meine Mutter sehr bemüht, auch mir wenigstens im Nachhinein eine Erklärung für das

Geschehene zu liefern. Heute würde man es vielleicht ähnlich angehen: Aus einer Stärke wurde eine Schwäche. Denn lern- und wissbegierig zu sein war damals wie heute keine Schande, im Gegenteil.

 

Durch meine intensive Auseinandersetzung mit der Disposition von ADHS, den Symptomen und den kognitiven Ursachen vieler Herausforderungen im Leben mit dieser neurologischen Entwicklungsstörung in den letzten Jahren, erkenne ich, dass diese Geschichte und insbesondere mein Verhalten viel Stoff bieten, um das, was Kinder mit ADHS vielerorts durchmachen und immer noch erleben müssen, erweitert zu verstehen.

 

Und genau das ist es, was mich derzeit antreibt. Welche Erkenntnisse und welches Wissen gibt es heute, und wie können die Ereignisse vor 50 Jahren in der Vorschule eines kleinen niedersächsischen Ortes neu eingeordnet und vor allem verstanden werden?