Meine ADHS-Diagnose

Es war der heiße Sommer 2018. Ich arbeitete, wohnte und schlief auf meinem Balkon und spielte mit dem Gedanken, meine eigene ADHS-Diagnose nun doch von einem Facharzt bestätigen zu lassen. Warum?

 

Es waren vor allem die Reaktionen der Menschen, mit denen ich sprach. Es schien zu einfach zu sein, Zweifel an mir und meinen Ausführungen zu äußern. Diesen Joker wollte ich den Kritikern nicht überlassen. Also fasste ich den Entschluss, es als strategische Entscheidung zu betrachten.

 

Doch meine Gedanken schweiften weiter (übrigens gaaaanz untypisch für Menschen mit ADHS). Ich stellte mir meine Zukunft vor, mein zunehmendes Alter, meine bereits vorhandenen Wehwehchen, die möglicherweise mit meinem ADHS in Verbindung stehen könnten (niedriger Blutdruck, Eisenmangel). Wer weiß das schon? Sicher, in den letzten Jahrzehnten wurde viel erreicht. Wir wissen immer mehr. Aber aus Kindern werden Erwachsene und aus Erwachsenen werden ältere Menschen. Und wie relevant ist ADHS im Alter überhaupt?

 

Insofern kann es nicht schaden, wenn ich vorausschauend handle und an die Zukunft denke.

 

Ich fand einen Arzt, obwohl eine solche Suche grundsätzlich keine leichte Aufgabe ist. Leute berichten in den sozialen Medien von fehlenden Angeboten für Kassenpatienten in Bayern, überfüllten Uni-Kliniken, die nicht einmal mehr Wartelisten führen, und Fachärzten mit Vorbehalten und/oder ohne ADHS-Spezialisierung. Das macht die Suche für viele Menschen nicht nur aufwendig, sondern auch langwierig und frustrierend.

 

Selbst meine Hausärztin, die ich sehr schätze, frotzelte, nachdem ich ihr von meinem Verdacht auf ADHS erzählte, dem ich nun nachgehen wollte. Sie erzählte mir diese Geschichte vom "Erfinder" des ADHS, der auf dem Sterbebett ... ach, das werde ich an dieser Stelle doch nicht wiederholen.

 

Also hatte ich meine Termine zur Diagnose noch im selben Sommer bekommen und traf auf einen Arzt, der nicht nur jung und offen war, sondern mit dem es sogar Spaß machte, eine Art ADHS-Pingpong zu spielen. Die Chemie stimmte, und das war wichtig.

 

Bei allen Überlegungen, die ich im Vorfeld angestellt hatte, war eine Frage nicht dabei: Sollte ich versuchen, einen Teil meiner täglichen Herausforderungen im Leben mit ADHS mithilfe einer zielgerichteten Medikation besser in den Griff zu bekommen? Was hätte ich zu erwarten? Was wäre möglich? Da ich viel über ADHS und Medikation gelesen hatte, entschied ich mich für das Experiment, das ich bis heute nicht bereut habe.

 

Mein Gedanke vor der Diagnose war, meinem Umfeld einen Joker zu entziehen. Doch ich hatte nicht erwartet, dass allein die Erwähnung des Wortes "Ritalin" nach der Diagnose für weit mehr Sprengstoff sorgen würde.

 

Persönliche Ansichten wie: Vielleicht bin ich da etwas überempfindlich, besonders, was Ritalin angeht, hörte ich nun häufiger. Gedankenspiel: Angenommen, jemand erhält eine Diabetes-Diagnose und wird fortan mit Insulin versorgt. Sagen Leute dann: Ich bin da vielleicht etwas überempfindlich, besonders, was Insulin angeht?

 

Machen wir uns nichts vor. ADHS als genetische Disposition, das Diagnoseverfahren sowie der Umgang und die Medikation werden gesellschaftlich an sehr vielen Stellen massiv in Frage gestellt. Es ist völlig egal, ob ich eine Diagnose habe oder nicht.

 

Wichtig ist, dass ich weiß, worum es geht. Ich bin keine 20 mehr, ich habe meine Erfahrungen gemacht und bin gewachsen und gestärkt. Ich werde mich nicht immer wieder von anderen in ihre jeweiligen Vorbehalte hineinreden lassen.

 

Einen offenen, ehrlichen und informierten Austausch hingegen, den lasst uns haben. Denn darin liegt das größte Glück. Ich bin nicht allein, und gemeinsam werden wir gegen diesen Unsinn ankämpfen. Den Status quo zu akzeptieren oder zu schweigen, das will und werde ich nicht länger. Mir den Mund verbieten zu lassen ...

 

... und schon taucht die nächste Geschichte auf, die erzählt werden will.