JA, ich habe ADHS!

Ich habe in meinem Leben einen großen Bogen um Ideologien, Parteiprogramme oder religiöse Gemeinschaften gemacht. Ich bin als Politikstudentin niemals dem Marxismus verfallen, Astrologie oder die Psychoanalyse interessierten mich nur am Rande. Als Erstwählerin kurz nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, wählte ich in Niedersachen zwar zum ersten Mal grün. Ich blieb aber als politisch Interessierte dem Engagement innerhalb einer politischen Partei fern. Ich bin keine Veganarin, ich meditiere nicht und bin als 18-jährige aus der Evangelischen Kirche ausgetreten. Jeder Versuch von außen – sei es von Freunden, an der Universität oder heute vor den Berliner S-Bahnhöfen – mich einer Gruppe einzuverleiben, um mich dort für die "richtige Sache" zu engagieren, lässt mich zurückschrecken und Abstand nehmen. Ich möchte mich als Individuum keiner gemeinschaftlichen Überzeugung anschließen und in der Folge nicht nach Regeln handeln, die mehrheitlich beschlossen wurden. 

 

Ab 2017 begann ich zunächst nur zu ahnen, relativ schnell aber zu wissen, ADHS zu haben. Und ich fing sofort an, mich jenen stark verbunden zu fühlen, die ähnlich ticken wie ich oder mit anderen gesellschaftlichen Normabweichungen zu tun haben. Auch wenn meine Selbstdiagnose, die ein Jahr später ärztlich bestätigt wurde, kein Eintrittsbillett für die Mitgliedschaft in einer (unorganisierten) Gemeinschaft enthalten hat, so nehme ich bis heute ein Gefühl von Vertrautheit wahr, von unerklärlicher Nähe, von großer Empathie für die jeweiligen Lebens- und häufig Leidensgeschichten. Ich fühle mich bestärkt durch die Möglichkeit, zum ersten Mal aus dem jahrzehntelangen Versteck herauszutreten und anderen ohne Furcht vor Beschämung, Kritik oder Missgunst offen zu begegnen.

 

Daher sage ich seitdem offen und laut (auch denen, die es vielleicht nicht hören wollen): Ja, ich habe ADHS.

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