Muss ich immer erst böse werden?

Ich halte es schon für grenzwertig übergriffig, meinem Sohn die Einnahme von Ritalin nahezulegen, schrieb mir vor etwa zwei Wochen eine Bekannte über einen meiner Socialmedia-Kanäle. Es war gegen 23.30 Uhr und an Schlaf war nun nicht mehr zu denken.

 

Ihre Nachricht kam so überraschend wie direkt. Im ersten Impuls wollte ich mich verstecken, ich fing umgehend an, mit mir zu schimpfen. Du bist zu weit gegangen, du bist zu weit gegangen, du bist zu weit gegangen. Gemeint war ich selbst. Ich hatte nur den ersten Satz gelesen, die anderen überflogen, mein Atem stockte, das Herz pochte und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Die Absenderin erschien vor meinem geistigen Auge, sie schlug mir auf den Brustkorb und stieß mich zurück. Ich fiel um. Ich wehrte mich nicht. Scham überzog meinen Körper und im Kopf hämmerte es weiter: Du bist zu weit gegangen, du bist mal wieder zu weit gegangen, du gehst immer zu weit, du weißt eben nicht, wann Schluss ist. Muss ich denn immer erst böse werden? 

 

Da stand er vor mir, mein Vater, mit dem ich zuvor noch herumgealbert hatte. Plötzlich ließ er von mir ab, ich verstand nicht warum, an Spaß war nicht mehr zu denken. Hatte er mich gebeten, aufzuhören? Hatte ich seine Worte überhört? Oder vielleicht nicht ernstgenommen, weil es mir so eine Freude machte, mit ihm vor dem Mittagessen zu toben? Seine Zurückweisungen kamen für mich aus dem Nichts. Ich hatte es nie kommen sehen. 

 

In diesem Fall wusste ich neulich schon, dass ich mich in Gefahr begeben hatte. Denn da war dieses Gespräch mit ihrem Sohn. Wir trafen uns zufällig und es war diese Ungezwungenheit, die vermutlich uns beiden gefiel. Außerdem begegnete ich zum ersten Mal einem nachdenklichen jungen Mann, zwei Jahrzehnte war er nur das Kind meiner Bekannten. Er hatte die Stadt für ein Studium am anderen Ende Deutschlands verlassen  und beschrieb seine Herausforderungen im Alltag, seine Konzentrations- und Motivationsprobleme an der Uni und Schwierigkeiten innerhalb der WG. Er verglich sich mit anderen und hatte Selbstzweifel. 

 

Ich musste an diesem Abend aufhören, darüber nachzudenken, was passiert war und versuchte, zu schlafen. Ich träumte, doch wachte ich in der Nacht mehrfach auf. 

 

Wie der junge Student sein Leben beschrieb, ließ mich nicht kalt. Ich war beeindruckt von seiner Selbstbeobachtungsgabe und der Offenheit, darüber mit mir, die er zwar lang, aber nicht gut kannte, zu sprechen. Als Studentin habe ich das nicht gekonnt. Wie sehr ich an manchen Tagen überfordert war und wie viel Kraft mich das Studium gekostet hat, wusste wohl nur ich. Doch wusste ich das wirklich? Der Kampf mit allem, was für mich neu und in keiner Weise selbstverständlich war, war mein Kampf, den ich anderen gegenüber niemals zur Sprache gebracht hätte. Mir fehlte die Fähigkeit, mich und meine Kräfte realistisch einzuschätzen oder mir Hilfe zu holen. Der Kampf gehörte zu meinem Leben. Nur wusste ich noch nicht einmal, dass ich einen führte.

 

Und so folgte ich im Rahmen des Gespräches meinem Gefühl und erzählte von mir. Dass es vorkommen kann, dass es andere Erklärungen für bestimmte Beobachtungen und Verhaltensweisen gibt als Faulheit, mangelnde Selbstdisziplin, fehlende Intelligenz oder ein zu geringes Durchhaltevermögen. Und so kam ich zwangsläufig auf mein ADHS und die Veränderungen, die sich mit dem Wissen bei mir mit meiner Diagnose ergeben haben, zu sprechen.

 

Ich weiß nicht, ob ich etwas zu Ritalin gesagt habe. Ich bin mir sicher, dass ich ihm meine Medikation nicht als Lösung nahegelegt habe. Aber meine Unaufgeregtheit, sich auch dieser Möglichkeit bei Diagnose nicht zu verschließen, wird vermutlich bei anderen bereits als halbes Verkaufsgespräch gedeutet.

 

Ich habe mich entschuldigt und mir erklären lassen, was hinter ihrer Nachricht stand. Auch ich habe erzählen dürfen, wie ich die Situation erlebt habe. Wir haben es wieder hinbekommen. Ob wir dabei einer Meinung sind, ist unwichtig. 

 

Wichtig ist eine kurze Mitteilung von dem Jungen, die ich vor ein paar Tagen erhielt, nachdem ich ihm einen Link zu einem Film über die Anfänge der Greenpeace-Bewegung geschickt habe. Meine Botschaft an ihn: Wenn du für etwas brennst, dann ist das eine großartige Ressource. Mit und ohne ADHS.

 

Ich freue mich immer, Deine Nachrichten zu lesen. 

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