Verschöpft!

Ich bin heute Abend echt verschöpft. Verschöpft? Was soll das denn sein? Nun, diese schöne Wortschöpfung stammt aus meiner Kindheit und aus meinem Mund. Mama, ich bin ja so verschöpft, soll ich gesagt haben. Meine Mutter, die mich zwar kannte, ließ mich dennoch wissen, dass dieses Wort nicht existiere. Ich sag aber trotzdem ..., lautete meine Antwort in solchen Fällen.

 

Und solche Fälle gab es damals und solche Fälle gibt es heute immer wieder. So schnell, wie die Neukreationen gekommen sind, sind sie meist auch wieder verschwunden. Weil sie eigentlich aufgeschrieben gehören. In der Regel merke ich gar nicht, wie mein Gehirn Worte und Bedeutungen neu zusammensetzt. Oder Zusammenhänge herstellt, die keine sind. Ein besonderes Kunststück (weil eigentliche eine Unfähigkeit): Redewendungen. Ich kann mir diese in der Regel nicht merken und setze eigenwillig neue aus zwei unterschiedlichen zusammen. Mir kommt das Gesagte zwar häufig komisch vor, aber unter Kontrolle habe ich nicht, was regelmäßig meinen Mund verlässt. Mein aufmerksames Umfeld hat jedoch seine Freude über diese Satz- und Wort-Verdrehungen. Mit ist es allerdings peinlich. Als Kind hatte ich oft das Gefühl, zu blöd zu sein und empfand Verbesserungen vor allem durch meine Mutter als Bloßstellung. Die trotzige Haltung war daher nur der Schritt in die Offensive ...  

 

"Verschöpft" hat es aber geschafft, in meinen aktiven Sprachgebrauch aufgenommen zu werden und dort all die Jahre zu bleiben. Ich nehme an, dass weniger die Qualität des Wortes als vielmehr das Gefühl dahinter verantwortlich ist. So wie ich als Kind verschöpft war, bin ich es auch heute noch. Und das hat ganz gewiss mit meinem ADHS zu tun. 

 

Meine Verschöpfung findet ihre Entsprechung vielleicht am ehesten im englischen Ausdruck to be overwhelmed. Mit meinem ADHS-Gehirn fällt es mir nämlich regelmäßig schwer, die vielen äußeren Einflüsse, Begegnungen, Gespräche, Gedanken oder Gefühle zu filtern und zu verarbeiten. Wenn ich eine Aufgabe erledige – so wie heute als Referentin für eine Schulklasse – gebe ich alles. Ich nehme mir im Vorfeld immer vor, "einfach" mal ein Standard-Programm ablaufen zu lassen: Halte Deinen Vortrag, stelle ein paar Fragen, diskutiere ausgewählte Aspekte. Das reicht. Niemand erwartet mehr. Dann kommt der Moment und ich stehe vor der Gruppe. Alle hören mir zu, ich bin da und die Vorsätze weg. Mittendrin. Mit voller Kraft voraus. Laut, wortgewaltig, lachend und meist sehr direkt. Konventionen interessieren mich wenig, ich gebe den Ton an und hole mit meinem Blick jedes Gruppenmitglied persönlich ins Boot. Alle sollen sich wohlfühlen, von mir einbezogen werden und "gemeint sein". Keine passive Mehrheit und wenige aktive Schülerinnen und Schüler. Doch das ist Arbeit, die ein Teil von mir parallel zu meinem Vortrag, leistet. Die Motoren sind angeschmissen, die Keilriemen schmoren, ich lass mich von meinem eigenen Engagement mitreißen. Nur selten fällt mir zwischendurch ein, einen Gang runterzuschalten. Lass mal die anderen machen! Es ist Zeit für eine Verschnaufpause. Doch oh weh, da kommt schon der nächste Impuls wie eine große Welle, die meine zarten Ansätze zur Selbstfürsorge endgültig fortschwemmt. Ein interessanter Gedanke und die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, Zusammenhänge herzustellen, Menschen zu überzeugen und für eine neue Sichtweise – je nach Zielsetzung der Veranstaltung – zu motivieren.  

 

Lange habe ich es nicht verstehen können, was mit mir in solchen Momenten passiert. Warum es immer ganz oder gar nicht sein muss. Die schöne ruhige Mitte mir einfach nicht gelingen will. 

 

Nun habe ich mir ja vorgenommen, im Rahmen dieses Blogs auch die unangenehmen Punkte anzusprechen und Dingen auf den Grund zu gehen. In diesem Fall könnte es sein, dass mir das Prinzip hinter meinem Verhalten schon irgendwie klar ist. Ich aber nie richtig hingeschaut habe. Vortragssituationen sind für mich nämlich mit Situationen vergleichbar, in denen ich neu in einen Raum komme oder zu einer Gruppe stoße, die ich nicht kenne. Ich spüre den Impuls: Wasser marsch! Unbekannte Menschen, vor allem in größerer Anzahl, lösen bei mir aus, zu reden, das Wort zu ergreifen, die Stille, die Unsicherheit, die Angst zu vertreiben. Einfach schön sein, in der Ecke zu stehen und zu lächeln – Fehlanzeige, nicht möglich. Ich nehme es mir wirklich vor. Mein Mund macht trotzdem, was er will. Ja, ich gebe es zu und spreche es aus: Ich kann es nicht kontrollieren.

 

Was andere Menschen demzufolge über mich denken, kann ich nur ahnen, oft aber spüren. Da ist es ein Blick, eine abfällige Geste oder die klare Abwendung. Das war immer schon so: zu viel, zu laut, zu forsch, zu frech, zu direkt, zu aufdringlich. Es ist komisch, ich neige zu einem Verhalten, das anderen fremd ist. Ich gehe bei Unsicherheit in die Offensive. Ich hole mir den Raum, ich rede drauf los, nicht selten um Kopf und Kragen.

 

Doch so einfach scheint die Erklärung noch nicht zu sein. In den letzten Jahren habe ich keine große Angst vor Vorträgen, mir machen diese sogar großen Spaß.

 

Ich will gemocht werden. Deswegen verhalte ich mich so. Und weil ich mich so verhalte, mögen mich viele Menschen nicht. Ganz schön blöde Kiste. 

 

Verschöpft gehe ich jetzt aber endlich schlafen, gute Nacht! 

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