Meine persönliche Statistik der ADHS-Verdächtigen

Es wäre naheliegend anzunehmen, dass mein Umfeld mir spätestens zu diesem Zeitpunkt einen Riegel vorgeschoben und dem Treiben ein Ende gesetzt hätte. Vielleicht hätte ich dann auch irgendwann aufgehört. Doch dann las ich, dass Frauen mit ADHS dazu neigen – wenn auch unbewusst – sich eine Umgebung von Gleichgesinnten zu schaffen.

 

Ich schaute um mich und fühlte mich bestätigt, dass sie schon immer da waren. Nicht nur meine Schulfreundin, mit der alles begann, hatte ADHS. Es gab auch die Männer, mit denen ich zusammenlebte, einige Frauen aus verschiedenen Lebensphasen, zu denen der Kontakt nicht eng war, aber nie abbrach. Menschen, die mir einst sehr nahe standen, aber wir uns dann aus den Augen verloren haben. Vermutlich, weil es aufgrund des ADHS selten einfach war. Und natürlich der erweiterte Familienkreis, denn ADHS ist eine genetische Disposition.

 

Ich war verwirrt. Vor dem plötzlichen Auftauchen von Frau Simchen und dem Simsalabim hatte ich noch nie von ADHS gehört, gelesen oder es wahrgenommen. Es war, als hätte ADHS für mich nicht existiert. Als ich begann, anderen zunächst allgemein, aber aus meiner eigenen Perspektive von all dem zu erzählen, erhielt ich die üblichen Reaktionen. 

 

Die typischen Aussagen, die in der Gesellschaft kursieren: ADHS ist eine erfundene Krankheit. Ist das nicht das mit dem Ritalin, mit dem Kinder ruhig gestellt werden? Ich habe gehört, das ist so eine Modeerscheinung, wer hat das heute nicht? Liegt die Ursache nicht darin, dass Kinder heute viel zu viel Zucker essen, zu lange vor den Bildschirmen sitzen und sich nicht ausreichend bewegen? Dieses Medikament wird nur verschrieben, weil wir verlernt haben, mit lebhaften Kindern umzugehen.

 

Hätte ich solche Sätze früher gehört, wäre es wahrscheinlich einfacher für mich gewesen zu verstehen, dass für manche Menschen die Vorstellung, selbst ADHS zu haben, aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas völlig fernliegt.

 

Es hat mich beschäftigt, wie es sein konnte, dass nicht nur ich, sondern auch mein Umfeld bisher kaum mit dem Thema ADHS in Berührung gekommen ist. Doch in einer Welt voller Stereotypen stellt sich wohl weniger die Frage, ob man selbst dazu gehören könnte. So hat es 50 Jahre gedauert, bis ich endlich selbst herausfinden musste, mit was ich mein Leben lang zu kämpfen hatte

 

Oder lag ich falsch? Vielleicht hatte ich gar kein ADHS? War das nur wieder eine meiner "Launen"? Im Gespräch mit anderen wurde deutlich, dass einige sofort überzeugt waren, dass ich unmöglich ADHS haben könnte. Dazu gehörte meine langjährige Psychotherapeutin und mein Bruder (Ob die mir nicht genau bekannten Probleme bei Dir ausschließlich mit ADHS zusammenhängen, kann ich natürlich auch nicht beurteilen... Dennoch wünsche ich Dir diesbezüglich alles Gute.).

 

Und was ist mit all den Menschen, die ich kenne und die mir nahestanden? Statistisch gesehen wäre es vielleicht unwahrscheinlich, dass es überhaupt eine solche Häufung gibt.

 

Dennoch fand mein Kopf Spaß an der Herausforderung, zu untersuchen, wie es wirklich um mich und andere in dieser Hinsicht steht. Doch wurde ich vorsichtiger darin, mit wem ich diese 'unwissenschaftlichen' Gedanken teilte.

 

In unbedachten Momenten hörte ich mich dann erneut sagen: Wer mit mir befreundet ist, steht quasi unter ADHS-Generalverdacht!

 

PS. Meine persönliche "Diagnose"-Statistik der ersten Jahre (2017-2019):

  • Einige, die bereits diagnostiziert sind, ich es nur nicht wusste (all sorts here), offen.
  • Vier Personen, die sich in der Folge haben diagnostizieren lassen. Wir teilen regelmäßig unsere Erfahrungen und unterstützen uns gegenseitig.
  • Vier Personen ohne Diagnose (sollte ich mal machen), offen und positiv, wir sprechen viel über ADHS.
  • Einige haben andere Diagnosen (u. a. Depression, Hypersensibilität, Hochbegabung) und sind weniger offen.
  • Einige lehnen die Möglichkeit ab, selbst ADHS zu haben, stellen bei Treffen aber viele Fragen.
  • Etliche sind vermutlich nicht von ADHS betroffen, zeigen aber großes Interesse (manchmal aufgrund familiärer Erfahrungen).
  • Andere sind völlig ablehnend (das ist anmaßend, du spinnst), und ADHS ist ein Tabuthema zwischen uns.
  • Einige sind diagnostiziert, jedoch war mir dies nicht bekannt. Ihr Umgang mit ADHS ist anders, und die Interaktion gestaltet sich schwierig.
  • Ritalin-Gegner (Zum Thema Medikamente habe ich einfach eine Antihaltung) brachen den Kontakt ab.
  • Einige zogen sich (genervt oder wortlos) von mir zurück.
  • Und nicht zu vergessen die neuen Bekanntschaften: Übrigens, ich habe ADHS. Hey, ich auch! Ich melde mich bei dir, dann können wir uns treffen.