ADHS-Moment: Zwischenmenschliche Stolpersteine – Wenn Gutgemeintes daneben geht

Es war schon fast Mitternacht, als ich eine Nachricht über einen meiner Social-Media-Kanäle erhielt. Eine Bekannte schrieb mir, dass sie es für bedenklich halte, ihrem Sohn die Einnahme von Ritalin anzuempfehlen (Original-Nachricht: Ich halte es schon für grenzwertig übergriffig, meinem Sohn die Einnahme von Ritalin nahezulegen).

 

Ihre Nachricht kam so überraschend wie direkt. Im ersten Impuls wollte ich mich verstecken, ich begann umgehend, mit mir selbst zu schimpfen: Du bist zu weit gegangen, hallte es in meinem Kopf wider. Gemeint war ich selbst. Ich hatte nur den obigen Satz gelesen, ihre ganze Nachricht konnte ich in diesem Moment nur überfliegen, denn mein Atem stockte, das Herz pochte und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Die Absenderin erschien vor meinem geistigen Auge, sie schlug mir auf den Brustkorb und stieß mich zurück. Ich fiel um. Ich wehrte mich nicht. Scham überzog meinen Körper und im Kopf hämmerte es weiter: Du bist zu weit gegangen, du bist mal wieder zu weit gegangen, du gehst immer zu weit, du weißt eben nicht, wann Schluss ist. Muss ich denn immer erst böse werden?

 

Je länger ich nachdachte, kamen ganz alte Erfahrungen in mir hoch. So stand plötzlich mein Vater vor mir. Ich hatte gerade noch mit ihm ausgelassen herumgealbert. Doch er ließ völlig unvermittelt von mir ab, ich verstand nicht warum, an Spaß war nicht mehr zu denken. Hatte er mich gebeten, aufzuhören? Hatte ich seine Worte überhört? Oder vielleicht nicht ernstgenommen, weil es mir so eine Freude machte, mit ihm vor dem Mittagessen zu toben? Seine Zurückweisungen kamen für mich aus dem Nichts. Ich hatte es nie kommen sehen. 

Illustration einer Gruppe von Eseln, die zusammenstehen, als Symbol für den gemeinsamen Weg der Selbsthilfe und Unterstützung bei ADHS-Diagnosen und Ritalin-Themen.
Die Esel-Gang: Gemeinsam stur auf dem Weg der Selbstfindung – auch bei ADHS!

Eine unerwartete Begegnung und ihre Folgen

In diesem aktuellen Fall wusste ich bereits, dass ich mich in Gefahr begeben hatte. Denn vor zwei Wochen gab es ein Gespräch mit ihrem Sohn. Wir trafen uns zufällig und es war diese Ungezwungenheit, die vermutlich uns beiden gefiel. Außerdem begegnete ich zum ersten Mal einem nachdenklichen jungen Mann. Zwei Jahrzehnte war er nur das Kind meiner Bekannten gewesen. Er hatte die Stadt für ein Studium am anderen Ende Deutschlands verlassen. Und beschrieb mir gegenüber seine Herausforderungen im Alltag, seine Konzentrations- und Motivationsprobleme an der Uni und Schwierigkeiten innerhalb der WG. Er verglich sich mit anderen und hatte große Selbstzweifel. 

 

Da lag ich nun kurz vor Mitternacht mit diesen alten und neuen Erinnerungen. Ich nahm mir an diesem Abend vor, aufzuhören, weiter darüber nachzudenken, was passiert war, und versuchte zu schlafen. Ich träumte, doch wachte in der Nacht mehrfach auf. Wie der junge Student sein Leben beschrieb, hatte mich nicht kalt gelassen. Ich war beeindruckt von seiner Selbstbeobachtungsgabe und der Offenheit, darüber mit mir zu sprechen, obwohl er mich zwar lange, aber nicht gut kannte. Als Studentin habe ich das selbst nicht gekonnt. Wie sehr ich an manchen Tagen überfordert war und wie viel Kraft mich das Studium gekostet hatte, wusste wohl nur ich. Doch wusste ich das wirklich? Der Kampf mit allem, was für mich neu und in keiner Weise selbstverständlich war, war mein Kampf, den ich anderen gegenüber niemals zur Sprache gebracht habe. Mir fehlte die Fähigkeit, mich und meine Kräfte realistisch einzuschätzen oder mir Hilfe zu holen. Der Kampf gehörte zu meinem Leben. Nur wusste ich noch nicht einmal, dass ich ihn führte.


Der Impuls, offen über ADHS zu sprechen

So folgte ich im Rahmen des Gespräches mit dem jungen Bekannten meinem Gefühl und erzählte von mir. Dass es vorkommen kann, dass es andere Erklärungen für bestimmte Beobachtungen und Verhaltensweisen gibt als Faulheit, mangelnde Selbstdisziplin, fehlende Intelligenz oder ein zu geringes Durchhaltevermögen. Und so kam ich zwangsläufig auf mein ADHS und die Veränderungen, die sich mit dem Wissen um meine Diagnose ergeben haben, zu sprechen.

 

Ich weiß nicht, ob ich etwas zu Ritalin gesagt habe. Ich bin mir sicher, dass ich ihm meine Medikation nicht als Lösung nahegelegt habe. Aber meine Unaufgeregtheit, sich auch dieser Möglichkeit bei Diagnose nicht zu verschließen, wird vermutlich bei anderen bereits als halbes Verkaufsgespräch gedeutet. Ich habe mich ein paar Tage später bei meiner Bekannten entschuldigt und mir erklären lassen, was hinter ihrer nächtlichen Nachricht stand. Auch ich habe im Anschluss erzählen dürfen, wie ich die Situation erlebt habe. Wir haben es wieder hinbekommen. Ob wir dabei einer Meinung waren und immer noch sind, ist wohl unwichtig. 

Das unerwartete Feedback des jungen Mannes

Wichtig ist eine kurze Mitteilung von dem Jungen, die ich vor ein paar Tagen erhielt, nachdem ich ihm einen Link zu einem Film über die Anfänge der Greenpeace-Bewegung geschickt habe. Meine Botschaft an ihn: Wenn du für etwas brennst, dann ist das eine großartige Ressource. Mit und ohne ADHS.

 

Ich freue mich immer, Deine Nachrichten zu lesen, bekam ich als Antwort von ihm zurück.

Eine Kinotafel mit Filmankündigungen und darunterliegende Wasserkanäle für die Feuerwehr, als Symbol für unerwartete Social Media Nachrichten über ADHS, Ritalin und ADHS-Diagnosen.
Zwischen Kinohits und Wasserkanälen: Kommunikation auf Social Media kann unerwartet spritzig sein!

Unsichtbare Grenzen und der Mut, sie zu überschreiten

Reflexion: Mutige Worte und unsichtbare Grenzen – Ein Balanceakt

Unsichtbare Grenzen – sie sind überall, besonders in sozialen Interaktionen. Manchmal sehen wir sie nicht und manchmal sind wir uns ihrer sehr bewusst, wie in meinem Fall. Ich wusste, dass meine Bekannte eine besondere Haltung zu Themen wie Krankheiten und ADHS hatte. Doch ich stand vor der Entscheidung: Sollte ich diese Grenze respektieren und schweigen? Oder sollte ich den Mut haben, das Thema ADHS anzusprechen, um vielleicht einen wertvollen Impuls zu geben?

 

Da war dieser junge Student, der offen über seine Herausforderungen sprach – seine Konzentrationsprobleme, Selbstzweifel und die ständige Verwirrung. Er schien auf der Suche nach Erklärungen zu sein, und ich wollte ihm meine Erfahrung teilen, ohne ihm direkt zu sagen: „Du hast ADHS.“ Stattdessen wollte ich ihm zeigen, dass es manchmal andere Erklärungen für Schwierigkeiten gibt – bei mir war es ADHS. Die Botschaft sollte sein, dass es oft Gründe für unsere Probleme gibt, die wir vorher nicht in Betracht gezogen haben.

Unverstandene Absichten und der Wunsch, hilfreich zu sein

Aber anscheinend kam meine Botschaft anders an, fast wie ein unverlangtes Anbieten von Medikation. Das war traurig, denn ich wollte ihm einfach nur die Möglichkeit geben, seine eigenen Antworten zu finden und nicht einfach nur Rat erteilen. Der Konflikt, der darauf folgte, machte deutlich, dass meine Intentionen nicht immer klar rüberkommen.

 

Dennoch glaube ich fest daran, dass es wichtig ist, manchmal mutig zu sein, auch wenn die unmittelbaren Ergebnisse nicht immer positiv sind. Vielleicht hat der junge Mann in der Zwischenzeit sein Studium abgeschlossen – ich habe ihn lange nicht gesehen. Ob und wie meine Worte bei ihm angekommen sind, werde ich vielleicht irgendwann erfahren. Die Hoffnung, dass mein Mut irgendwann einen positiven Einfluss haben könnte, bleibt bestehen. Denn manchmal kann auch ein kleiner Impuls in eine neue Richtung einen Unterschied machen, selbst wenn der Weg dorthin steinig ist.



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