ADHS verstehen – jenseits von Mythen, Stigma und Schweigen

ADHS verstehen – nicht nur beschreiben

ADHS ist mehr als eine Diagnose – es beeinflusst zahlreiche Lebensbereiche: von der Schule bis zur Steuererklärung, von der Berufswahl bis zum alltäglichen Umgang mit Geld. Doch was genau steckt dahinter? Und warum ist es so entscheidend, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln?


Bei bricklebrit setzen wir nicht beim klassischen „Symptomkatalog“ an – also dem bekannten „Ach, das gehört auch zu ADHS?“ – sondern gehen einen Schritt weiter: Wir schauen hinter das Verhalten. Statt Symptome zu zählen, fragen wir: Warum zeigen sie sich überhaupt? Welche inneren Prozesse – oft unsichtbar, meist unbewusst – führen dazu, dass Menschen mit ADHS im Alltag immer wieder anecken, scheitern oder sich selbst infrage stellen?

„Ich wollte nicht wissen, *was* bei mir anders war – ich wollte endlich verstehen, *warum*. Und was mir hilft.“

Das symptomzentrierte Denken, das in Deutschland leider noch immer vorherrscht, hilft kaum, um konkrete Antworten für den Alltag zu finden. Es erklärt nicht, wie ADHS wirklich funktioniert – und wie wir damit leben und arbeiten können. Genau das wollen wir ändern.

Als eine Person, die selbst mit ADHS lebt, war mir diese Perspektive immer wichtig: Nicht, um mich zu rechtfertigen, sondern um mich und andere besser zu verstehen. Ich wollte begreifen, warum ich so oft „anders“ reagierte – und was mir helfen kann, besser durchs Leben zu kommen.

Wissen und Ursachenforschung haben mich mehr weitergebracht als jedes „Das ist halt so“ oder das entmutigende „Hör auf, es bringt doch eh nichts“.

Ich erinnere mich noch gut an die Vorschule: Immer wieder bekam ich gesagt, ich sei „vorlaut“. Warum? Weil ich die Antwort auf eine Frage nicht im Kopf behalten konnte, sondern sie einfach sofort herausplatzte. Niemand fragte damals, warum das so war – und ich konnte es nicht erklären.

Doch genau solche Situationen hinterlassen Spuren. Sie prägen das Selbstbild, sie nagen am Selbstwert. Wie anders hätte mein Weg ausgesehen, wenn mein Verhalten nicht nur bewertet, sondern verstanden worden wäre?


Deshalb setzen wir heute auf einen anderen Zugang. Einen, der nicht nur benennt, was passiert, sondern begreifbar macht, warum es passiert – und wie man wirksam damit umgehen kann.

Für Kinder. Für Eltern. Für Fachkräfte. Für alle, die mit ADHS leben oder arbeiten.

„Vorlaut“ – oder einfach nur schneller als mein Gehirn?

Ich erinnere mich noch gut an meine Vorschulzeit: Ich war das Kind, das Antworten schon in die Klasse rief, bevor die Frage ganz ausgesprochen war. Weil ich sie sonst vergaß. Statt Verständnis bekam ich ein Pflaster auf den Mund. Das war kein gutes – aber ein sehr eindeutiges Signal: Jetzt mal ruhig sein.

Damals wusste niemand, dass es ADHS war. Nicht, weil es ADHS nicht gab – sondern weil es nicht erkannt, somit nicht verstanden und schon gar nicht diagnostiziert wurde. Was hier geschah, fand in den 1970er Jahren statt. Da war ADHS noch nicht in Sicht.

Was blieb, war die sichtbare Reaktion auf mein Verhalten: ein Kind, das sich nicht benehmen konnte. Vermutlich schlecht erzogen. Respektlos. Und deshalb zurechtgewiesen.

Heute weiß ich, was ich damals nur fühlen – aber niemandem erklären – konnte: Hinter meinem Verhalten steckte kein Trotz, keine Absicht, kein Mangel an Respekt oder Einsicht. Sondern eine neurologische Entwicklungsstörung, die meine Fähigkeit zur Selbstregulation tief beeinflusste. Es war mir schlicht nicht möglich, Impulse zu steuern, Gedanken zu halten oder mich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen.

Und genau deshalb erzähle ich diese Geschichte immer wieder: Weil ein Perspektivwechsel alles verändern kann.

Kind mit Pflaster auf dem Mund

Die Welt war noch nicht so weit

Nein, die Welt war noch nicht so weit. Und ist es ja an vielen Stellen bis heute nicht.

Statt Klarheit und Wissenschaftlichkeit halten sich bezogen auf ADHS weiterhin hartnäckig viele Mythen und Stigmatisierungen, obwohl es seit Jahrzehnten diagnostiziert wird und auch die Forschung dazu immer mehr Erkenntnisse hervorbringt.

Neurodivergente Perspektiven – dazu gehören nicht nur Menschen mit ADHS, sondern auch jene mit Autismus, LRS oder anderen neurologischen Besonderheiten – werden in Forschung, Praxis und Politik noch immer nicht selbstverständlich mitgedacht.

Besonders fehlt eine querschnittsbezogene Perspektive: Wie lassen sich unterschiedliche Bedürfnisse so berücksichtigen, dass Bildung, Arbeitswelt, Finanzsysteme oder soziale Unterstützungsstrukturen tatsächlich inklusiv sind? Wie können Schulen individuellere Förderung bieten, ohne dass Kinder mit ADHS ständig als „Problemfälle“ gelten? Wie kann Finanzbildung gestaltet sein, sodass impulsives Verhalten oder exekutive Dysfunktionen nicht zu Schulden oder wirtschaftlicher Abhängigkeit führen?

Es geht nicht nur um mehr Wissen über ADHS – es geht darum, Räume zu schaffen, in denen Menschen mit ADHS nicht nur „zurechtkommen“, sondern ihr Potenzial entfalten können.

1974 Vorschule Lüneburger Heide mit Pflaster in der Ecke

Was passiert, wenn wir ADHS nicht verstehen?

Viele Menschen erfahren erst spät von ihrer ADHS-Diagnose und wissen lange Zeit nicht, dass sie diese Disposition haben. Ohne dieses Wissen fehlt oft die Chance, sich mit den Besonderheiten des Lebens mit ADHS auseinanderzusetzen oder gezielte Unterstützung zu erhalten.

Späte Diagnose, fehlendes Wissen – und ihre Folgen

Andere erhalten die Diagnose bereits im Kindes- oder Jugendalter, doch beim Übergang ins Erwachsenenleben versuchen sie oft, ihre Herausforderungen ohne spezialisierte Methoden zu bewältigen. Sie steuern durchs Leben, ohne die eigenen Bedürfnisse und Schwierigkeiten richtig zu erkennen oder gezielt anzugehen.

Häufig ist eine Krise der Auslöser für eine späte Diagnose oder eine tiefere Auseinandersetzung mit ADHS – sei es eine Überschuldung, eine berufliche oder private Krise oder ein plötzlicher Verlust an Stabilität. In diesen Momenten steht verständlicherweise zunächst die Bewältigung der akuten Situation im Vordergrund.

Warum Wissen über ADHS ein entscheidender Teil der Lösung ist

Doch ich sage immer: Es reicht nicht, nur die akute Lage zu klären – wir müssen auch verstehen, was ADHS überhaupt ist und wie es sich im eigenen Leben zeigt. Warum? Weil der Mangel an Wissen über ADHS oft ein zentraler Bestandteil des Problems ist.

Ohne ein tieferes Verständnis besteht die Gefahr, immer wieder in ähnliche Schwierigkeiten zu geraten. Wer nicht weiß, welche Mechanismen hinter dem eigenen Verhalten stehen, kann sich schwerer gezielt helfen. Die Ursachen zu kennen bedeutet, die möglichen Lösungswege zu verstehen.

Doch es geht nicht nur um Lösungen

Wir finden nicht nur praktische Wege, um besser mit ADHS umzugehen – sondern setzen durch Wissen auch den Prozess in Gang, ADHS als einen Teil von uns selbst zu akzeptieren. Das gelingt, wenn wir es als realen Bestandteil unserer Identität begreifen – nicht als etwas, das wir verleugnen oder ignorieren können, sondern als etwas, mit dem wir uns bewusst auseinandersetzen müssen, um unseren eigenen Weg damit zu gestalten.

Dabei geht es weder um eine völlige Identifikation noch darum, ADHS zu übersehen. Es ist weder alles noch nichts – nicht das Einzige, was uns ausmacht, aber auch kein unwichtiger Nebenaspekt. Ein klarer und realistischer Blick, der sowohl Akzeptanz als auch eine gewisse Distanz ermöglicht, schafft die besten Voraussetzungen, um unseren eigenen Weg mit ADHS immer besser zu gestalten.

Ich weiß – das klingt oft leichter, als es sich für viele anfühlt. Aber es ist ein Ziel, das sich lohnt, schon einmal im Hinterkopf zu behalten, wenn wir uns auf den Weg machen, ADHS und unser eigenes ADHS immer besser zu verstehen.

ADHS ist eine Herausforderung der Selbstregulation – und wir sind ein Teil der Lösung

ADHS ist eine Beeinträchtigung der Selbstregulation. Das bedeutet: Auch wenn es viele Dinge gibt, die wir lernen oder von außen erhalten können, lässt sich diese Herausforderung nicht nachhaltig bewältigen, wenn wir uns selbst nicht aktiv in den Prozess einbeziehen.

Ohne Dich – ohne Dein aktives Handeln – geht es nicht.

ADHS ist wie ein blinder Passagier, der schon lange mitfährt und im besten Fall einfach das tut, was er will. Doch wir sind die Kapitäne unseres eigenen Bootes. Es geht nicht darum, gegen diesen vermeintlichen Feind zu kämpfen, sondern ihn als Teil von uns anzuerkennen und besser kennenzulernen.

Denn erst wenn wir ADHS nicht nur als Hürde, sondern als Teil unserer Realität verstehen, können wir lernen, uns selbst zu navigieren – mit neuen Strategien, mit mehr Selbstakzeptanz und mit dem Wissen, dass wir nicht allein sind.


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