Die Herausforderung der Wartezeiten und der Impulsivität im Klassenzimmer
In der kommenden Woche habe ich einen Workshop-Termin in einer Grundschule, bei dem es um das Thema ADHS gehen wird. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau weiß, welche Erwartungen die Teilnehmer:innen haben werden, setze ich mich bereits intensiv mit dem Thema auseinander, lese viel und studiere eine Vielzahl wissenschaftlicher Aufsätze.
Doch neben den üblichen Vorbereitungsmaßnahmen für eine solche Veranstaltung beschäftigt mich die Thematik auch persönlich. Dabei rattert es förmlich in meinem Hinterstübchen und raubt mir einen Teil meiner Aufmerksamkeit. Denn meine Mutter besucht derzeit einmal wöchentlich einen Handy-Kurs, genau an dem Ort und in dem Raum, wo ich vor 50 Jahren mit einem Pflaster auf den Mund in die Ecke gestellt wurde. Damals war ich sechs Jahre alt, gehörte seit Januar 1973 zur sogenannten "Erstgeneration Sesamstraße" und war voller Vorfreude auf die Schule. Doch was mir im ersten Schuljahr (das für mich zu einem Vorschuljahr wurde, da dieses neuartige Angebot zu dieser Zeit nicht nur meine Mutter überzeugt hat) besonders schwerfiel, waren einige Klassenregeln. Besonders die Regel, bei der es um die geordnete Beantwortung von Fragen im damals noch üblichen Frontalunterricht ging.
Die Auswirkungen der Disziplinarmaßnahme und der Impulsivität
Die Regeln sahen vor, dass ich nach einer Frage der Lehrerin den Finger heben sollte, um zu antworten, wenn ich die Antwort wusste – oder zumindest antworten wollte. Ob ich die Antwort immer wusste oder sie mir überhaupt lange genug merken konnte, weiß ich heute nicht mehr genau. Der Zeitraum zwischen gestellter Frage und zu gebender Antwort war lang, weil die Lehrerin mir erklärte, dass viele Kinder in der Klasse auch antworten möchten und einige mehr Zeit zum Überlegen benötigen. So musste ich immer recht lange warten, bis ich aufgerufen wurde, um dann meine Antwort zu geben. Genau dieser Aspekt bereitete mir die meisten Probleme. Grundsätzlich war es kein akademisches Problem – ich habe sehr wohl verstanden, dass nicht nur ich allein dazu bestimmt war, Antworten zu geben. Auch die Lehrerin betonte täglich, dass alle Kinder das Recht haben sollten, auf ihre Fragen zu antworten. Ja, das konnte ich nachvollziehen.
Es gelang mir einfach nicht. Meine Impulsivität, ein typisches ADHS-Symptom, machte mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Ich konnte nicht warten, bis ich aufgerufen wurde – die Antwort sprudelte aus mir heraus, als hätte sie ein Eigenleben. Trotz aller Ermahnungen und meiner eigenen Vorsätze schossen meine Antworten immer wieder ungefragt ins Klassenzimmer. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft mich drängte, sofort zu reagieren. An dieses Gefühl kann ich mich noch sehr genau erinnern. So kam es eines Tages zum sogenannten Showdown. Der Lehrerin platzte der Kragen, sie holte mich hervor und klebte mir ein Pflaster auf den Mund. Dann musste ich mich mit dem Gesicht zur Ecke wenden und dort stehen bleiben.
Die Erinnerung und das Verständnis aus der heutigen Perspektive
Es muss traumatisch gewesen sein, denn ich habe wirklich kein Bild dieser Situation mehr in meiner Erinnerung. Fast fünf Jahrzehnte lang hatte ich das Gefühl, ich hätte mir die ganze Angelegenheit nur ausgedacht oder davon geträumt. Nein, das hat alles wirklich stattgefunden. Die Geschichte ist da. Denn als ich vor ein paar Jahren mit Katrin telefonierte – eine der wenigen, mit der ich heute noch in Kontakt stehe – und sie nach diesem Tag in unserem Leben fragte, sagte sie ganz offen, dass sie sich sehr gut daran erinnern könne. Sie wisse sogar noch, was sie in diesem Moment gedacht habe.
Wollte ich das hören? Ich atmete tief durch. Würde ich es schaffen, ihre eigene Erinnerung an diesen Vorfall nach so vielen Jahren zu ertragen? Also fragte ich nach, denn ich war ja auch neugierig. Ich hielt mich jedoch gleichzeitig mit beiden Händen an meiner Tischplatte fest. Mein Rücken verkrampfte sich. Es war dieses schreckliche Gefühl, dem, was kommen würde, entgegenzusehen. Nun, ich wollte es nicht anders. Und da sprach Katrin es auch schon aus: "Endlich Ruhe!".
Ich atmete nochmals tief durch, bedankte mich freundlich und schloss das Telefonat. Ja, jetzt brauchte ich eine Ruhepause.
Die Bedeutung von Verständnis und Unterstützung für ADHS-Kinder
Heute verstehe ich, warum ich immer wieder aneckte. Erst Jahre später, nach meiner eigenen ADHS-Diagnose, wurde mir klar, dass es anderen genauso ging. Der Drang, sofort zu antworten, ohne die Geduld zu haben, abzuwarten – das war keine böswillige Absicht, sondern ein kognitives Problem mit der Selbstregulation bei ADHS. Mir wurde bewusst, wie früh sich die Symptome in mein Leben eingemischt hatten und wie wenig Verständnis es damals dafür gab. Woher hätte es auch kommen sollen? Von ADHS und solchen unsichtbaren Hürden hatte niemand eine Vorstellung.
Das ist heute anders, auch wenn sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse nur sehr langsam in die Praxis verbreiten. Wenn ich heute in Workshops oder Vorträgen über ADHS spreche, weiß ich, dass ich nicht nur Wissen vermittle, sondern auch eine Stimme für all die Kinder bin, die so sind wie ich damals. Kinder, die nicht einfach "vorlaut" oder "unruhig" sind, sondern deren Gehirne anders funktionieren und die besondere Bedürfnisse haben. Kinder, die sich mehr Verständnis und weniger Strafen wünschen.
Und nicht nur das: Diese Kinder haben ein Recht darauf, dass wir als Gesellschaft – und besonders in unserem pädagogischen System – mehr als nur die drei Hauptsymptome von Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit berücksichtigen. Denn viele Vorstellungen von ADHS enden leider noch immer dort und erfassen nicht die ganze Komplexität der täglichen Herausforderungen, die Kinder und Erwachsene mit ADHS erleben.
Wie vielfältig und tiefgehend die Hürden sind und wie gezielt und bewusst man mittlerweile darauf eingehen kann – das hätte die Schulanfängerin Kirstin nicht nur gut gebrauchen können, sondern viele Kinder heute. Denn ich weiß, wie es sich anfühlt, in der Ecke zu stehen – und was es braucht, um endlich gesehen und verstanden zu werden. Und auch gezeigt zu bekommen, wie wir mit diesen besonderen Gehirnen lernen, wachsen und erfolgreich sein können!