Aufschieben beginnt im Kopf

Meine Mutter und ich

Wenn plötzlich alles klar ist

Eine persönliche Geschichte über Autonomie, mentale Hürden –
und den Moment, in dem das Handeln plötzlich leichtfällt.


Neue Gespräche, neues Wir: meine Mutter und ich

Seit dem Tod meines Vaters bin ich wieder häufiger in meinem Elternhaus oder telefoniere oft mit meiner Mutter. Früher war das Telefon ein Quell ständiger Konflikte – zu teuer, zu laut, zu lang. Heute? Flatrates, mobile Geräte, keine Kostenfrage mehr. Ein echter Wandel. Und den genießen wir beide.

Ich habe entdeckt: Meine Mutter redet gerne. Viel. Wild durcheinander. Und ja, das fühlt sich manchmal sehr nach ADHS-Gesprächen an – wir verlieren den Faden, finden ihn wieder, erzählen nochmal neu. Und lachen dabei.

In diesem Fall saßen wir zwar ganz analog zusammen in ihrer Küche, aber statt uns nur zu verplaudern, standen wir vor einer echten Herausforderung. Es ging um eine scheinbar einfache Frage – aber mit großer innerer Hürde: Wie komme ich ohne Auto zum Arzt? Eine Frage, die sie bereits einige Tage vor sich hergeschoben hatte. Nun war ich aber da, und wir konnten darüber sprechen.

Wenn das Auto in der Werkstatt ist …

Im Winter war das Auto meiner Mutter mehrere Wochen in der Werkstatt. Auf dem Land ist das eine echte Herausforderung: Supermarkt, Apotheke, Arztbesuche – nichts geht mehr spontan. Für eine Frau, die jahrzehntelang alles allein gemacht hat, war das ein emotionaler Einschnitt.

„Autonomie ist alles – Abhängigkeit mag niemand.“

Sie hätte einfach um Hilfe bitten können. Aber das fiel ihr schwer. Zu viele innere Blockaden, zu viele Sorgen: „Was, wenn ich das bald dauerhaft nicht mehr kann?“ Diese Gedanken verzerrten ihren Blick auf das Jetzt.

Kindheitsmuster & mentale Hürden

Auch ich rutschte in alte Muster. Ich sah wieder die überforderte Mutter von früher – die, die nicht zuhört, ungeduldig ist und emotional überfordert wirkt. Da war ich nicht mehr ganz so besonnen, aber ich versuchte trotzdem, mit ihr Lösungen zu finden: Wen kann man ansprechen? Wie fragt man konkret um Hilfe? Sie war zunächst wie ein bockiges Kind, das jede Option ablehnte. Doch dann begannen wir, konkrete Dialoge durchzuspielen.

Und plötzlich – mitten im Gespräch – stand sie auf und ging einfach..

„Wohin willst du?“ – „Na, anrufen! So wie wir’s eben besprochen haben!“
Das war der Moment.
Kein Zögern, keine Zweifel mehr. Der Weg war klar, das Gefühl drängte zur Tat.

Emotionen steuern Handeln – aber sie sind nicht die Ursache

Ich erzähle diese Geschichte, weil viele diesen Moment kennen: Plötzlich ist alles klar. Und dann geht es los – sofort. Keine mentale Belastung mehr, keine unsichtbaren Schranken. Nur noch der Wunsch, es endlich zu erledigen.

Prokrastination ist nicht das Problem – sondern der Hinweis darauf.

Prokrastination halten viele für ein rein emotionales Thema. So wie bei meiner Mutter: Die Aufgabe war eigentlich klar – „Ich habe kein Auto, muss aber zum Arzt.“ Doch diese eher logistische Herausforderung wurde zu etwas Größerem. Es ging um Autonomie und Abhängigkeit im Alter – keine ferne Zukunftsfrage mehr, sondern eine, die plötzlich ganz konkret auf dem Tisch lag. Und mit ihr kamen auch starke Gefühle: Angst vor Zurückweisung, die Sorge, zur Last zu fallen – wer hat Zeit? Wer hilft wirklich gern? Wenn ihr an diesem Tag nur eine Möglichkeit geblieben wäre, niemanden fragen zu müssen – sie hätte sie sofort ergriffen. Aber der emotionale Nebel breitete sich aus. Einfaches, klares Denken wurde schwierig. Und auch das Regulieren der Gefühle fiel ihr schwer.

So geht es uns oft. Wir wissen gar nicht genau, was uns abhält, wenn wir Aufgaben aufschieben. Wir spüren nur: Etwas fühlt sich zu groß oder zu unangenehm an. Und statt ins Handeln zu kommen, analysieren wir, bewerten die Situation – und uns selbst. Die Folge: Wir drehen uns im Kreis. Grübeln. Warten. Und handeln nicht.

Doch was passiert da eigentlich?
  • Viele dieser emotionalen Reaktionen – Überforderung, Angst, Rückzug – sind Folgen, keine Ursachen.
  • Wenn unser Gehirn im Vorfeld annimmt, dass eine Aufgabe zu komplex oder ressourcenaufwändig ist, blockiert es den Start.
  • Das liegt an den Exekutivfunktionen: Wenn sie überlastet sind, kommen wir gar nicht erst ins Handeln.
  • Emotionen wie Scham oder Frust entstehen nachgelagert – doch wir halten sie oft fälschlich für das Hauptproblem.
  • Statt moralischer Selbstkritik brauchen wir funktionales, konkretes Nachfragen: „Was ist wirklich unklar?“

Zurück in die Selbstwirksamkeit

Wenn wir verstehen, was uns blockiert, können wir wieder handlungsfähig werden. Genau das ist der erste Schritt zurück in die Selbstwirksamkeit. Statt uns für das Aufschieben zu verurteilen, lohnt es sich, achtsam hinzuschauen:

  • Welche Aufgabe fühlt sich gerade zu groß an?
  • Was genau daran ist schwer, kompliziert oder noch unklar?
  • Und wer oder was könnte mir helfen, diese Fragen überhaupt erstmal zu klären – denn solange das offen bleibt, bleibt auch die Aufgabe eine Hürde.

Oft ist genau das der Moment, in dem wir Unterstützung brauchen. Denn gerade wenn alles unklar oder überwältigend wirkt, ist es schwer, allein Struktur hineinzubringen. In solchen Situationen hilft es, gemeinsam mit jemandem ein Mini-Skript zu entwickeln: eine kleine Schritt-für-Schritt-Notiz, die zeigt, womit ich anfangen kann. Was mache ich zuerst, was als Nächstes?

So war es auch in meinem Gespräch mit meiner Mutter: Sie wusste, dass sie zum Arzt musste, aber nicht, ob jemand sie fahren könnte – und wie sie überhaupt danach fragen sollte, ohne sich hilflos oder aufdringlich zu fühlen. Gemeinsam haben wir diese Unsicherheit entwirrt, mögliche Personen durchgesprochen, Formulierungen ausprobiert – und dabei wurde klar: Es geht nicht nur um eine Fahrt, sondern auch um die Angst, in Zukunft häufiger Hilfe zu brauchen. Durch diesen Austausch wurde aus einer diffusen Überforderung eine überschaubare Handlung.

Vielleicht hilft auch Dir die Erinnerung: Viele dieser inneren Widerstände sind keine Charakterschwächen – sondern kognitive Hürden, die wir gemeinsam überwinden können.

Selbstwirksamkeit beginnt oft im Kleinen: mit einem Satz, einem Gespräch, einem ersten Schritt.

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