Neulich, am Geburtstag meines Sohnes, hatte ich einen melancholischen Tag. Wir verbrachten den Vormittag zusammen, den Rest des Tages war ich allein. Ich aß Kuchen, schaute einen Film, arbeitete ein wenig – aber nicht ernsthaft. Ich konnte mich nicht auf große Fragen konzentrieren, war nicht wirklich wach im Kopf.
Also ließ ich die Traurigkeit einfach da sein und dachte über Vergangenes nach – über seine Geburt, über gemeinsame Erlebnisse. Und darüber, dass wir Eltern uns irgendwann getrennt haben. Damals war der Kleine, der heute zwei Meter groß ist, noch so jung, dass er nicht einmal in die Schule ging.
Melancholisch sein – was ist das? Ich konnte die Gefühle kommen und gehen lassen. Es war alles gut so, wie es war. Vielleicht hätte ich meine Gedanken gern mit jemandem geteilt – aber hätte ich das wirklich getan, wenn jemand da gewesen wäre? Wahrscheinlich nicht. Dann wäre dieser Teil von mir gar nicht sichtbar geworden.
Und so fragte ich mich: Wer sind wir eigentlich? Sind wir die Starken oder die Schwachen, die Tapferen oder die Ängstlichen? Wenn ich an einem Tag so bin und am nächsten wieder ganz anders – wer bin ich dann? Was ist wahr? Und was ist mehr wahr?
Müssen wir eine Summe bilden, um der Wahrheit gerecht zu werden? Müssen wir entscheiden, dass wir „mehr so“ oder „mehr so“ sind?
Warum will unser Gehirn immer bewerten – wissen, wo wir stehen, wer wir sind? Und steckt darin nicht schon das Problem?
Vielleicht fällt es uns mit ADHS besonders schwer, Ambivalenzen auszuhalten. Dabei gehören sie zum Leben. Doch immer wieder zwingt uns etwas, Schlussfolgerungen zu ziehen – über uns, über andere, über unsere Tage. War es nun eine gute Woche oder eine schlechte? Wenn mir eine Kollegin vor zwei Wochen erzählt, wie schlecht ihre Auftragslage ist, und gestern voller Freude von neuen Projekten berichtet – was weiß ich dann wirklich über ihre berufliche Situation? Vielleicht reicht schon ein Anruf, ein Lichtblick, um alles anders erscheinen zu lassen. Vielleicht sind es oft mehr Gefühle als Fakten, die unsere Bewertungen formen.
Ich spüre, dass ich meinem eigenen Gehirn öfter misstrauen sollte. Es liebt Bewertungen, Pauschalisierungen, schnelle Schlüsse. Ja, ich kann sagen, dass mich Dinge stören – und in einem Moment fühlen sie sich sogar existenziell an. Doch sobald ich anders gefordert bin, wird mir später klar: Der Abstand kam schnell.
Halten wir uns fest, wenn wir ängstlich sind? Wenn wir uns betrogen oder übergangen fühlen? Und was ist dann wirklich wahr? Was ist tatsächlich passiert – und welchen Anteil hatten wir selbst?
Haben wir alle Aspekte bedacht, auch uns selbst mit einbezogen? Wie ging es uns? Was haben wir gesagt oder nicht gesagt, wie haben wir gewirkt – und warum? Wo liegen unsere blinden Flecken, und was haben sie mit all den kleinen und großen Momenten unseres Lebens zu tun?
Vielleicht sucht unser Gehirn ständig nach Erklärungen außerhalb von uns, um sich zu beruhigen oder von sich abzulenken. Aber was sagt das über unsere Unsicherheit? Brauchen wir nicht Sicherheit und Klarheit, um zu wissen, wie wir uns in der Welt bewegen – und was uns guttut? Sind wir selbst gut zu uns? Oder erwarten wir von anderen, was wir uns selbst noch gar nicht zugestehen?
Oft erkennen wir gar nicht, wie wir denken, fühlen und reagieren – und wie sehr all das unsere Entscheidungen prägt.
Doch wer das beginnt zu bemerken – wird der freier im Umgang mit dem eigenen ADHS? Oder unsicherer?
Ich glaube, das Bewusstsein für meine eigene Unvollkommenheit hilft mir, schwierige Momente auszuhalten. Früher dachte ich: Wenn ich das so fühle, dann ist es die Wahrheit. Heute weiß ich: Es vergeht.
Zu lernen, das eigene Gehirn zu durchschauen – zu merken, dass Emotionen oft schlechte Ratgeber sind, weil sie so sehr um sich selbst kreisen – das macht frei. Sie lassen uns Dinge glauben, die bei Tageslicht keinen Bestand haben: schwarz-weiß, katastrophisch, übersteigert. All die vertrauten, aber unbrauchbaren Denk- und Handlungsmuster.
Recht haben zu wollen, ist ihre Devise, Klarheit zu erzwingen, obwohl noch gar keine Klarheit da ist. Pseudoklarheit, Unwahrheit, Glaubenssätze und Annahmen – und dann viele Gefühle, bewertete Emotionen. Ach ach, mit ADHS zu leben ist nicht leicht, nein.
Aber zu merken, dass ich das alles ziehen lassen kann, und dass nichts eine ganze Wahrheit ist, sondern immer nur eine Teilwahrheit, macht mich frei. Und das fühlt sich bei aller Melancholie sehr gut an.
Freiheit beginnt dort, wo wir uns selbst zuhören, ohne gleich zu urteilen.
Gerade bei ADHS ist das wichtig, weil unsere schnellen Urteile oft die Grundlage für impulsives Handeln bilden. Handlungen erzeugen Folgen, manchmal Fakten, die neue Schleifen aus Bewertungen, Emotionen und Entscheidungen auslösen.
Wenn wir lernen, bewusst innezuhalten, uns selbst wahrzunehmen und erst dann zu handeln, können wir diesen Kreislauf durchbrechen. Wir gewinnen Klarheit, Selbststeuerung und damit echte Freiheit – Schritt für Schritt.